Quelle: pixabay.com

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In diesem Fall befuhr die Klägerin mit ihrem Fahrrad einen Radweg, der an einer Bushaltestelle vorbeiführt. Ein aussteigender Fahrgast betrat den Radweg und beide stießen zusammen, wobei die Klägerin verletzt wurde. Nach Ansicht des Kammergerichts beträgt die Haftungsverteilung 80:20 zulasten der Radfahrerin (Beschluss vom 15.01.2015, Az. 29 U 18/14):

1. Dem Grunde nach kommt eine Haftung des Beklagten aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung von Körper und Gesundheit in Betracht. Er verletzte durch sein Verhalten am 16. Oktober 2012 die Klägerin. Der Beklagte handelte rechtswidrig und schuldhaft, weil er entgegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO den Radweg ohne Beachtung des Verkehrs betrat. Fahrbahnen im Sinne dieser Vorschrift sind auch Radwege (Heß in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 23. Auflage 2014, § 25 StVO Rn. 10; Landgericht Heidelberg, ZfSch 2004, 257 f.). Der Beklagte hätte nicht den Radweg betreten dürfen, ohne sich zuvor zu vergewissern, ob ein Radfahrer kommt.

2. Der Höhe nach beschränkt sich der im Antrag zu 1) geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch auf 10.000 €. Dabei hat der Senat bei der im Hinblick auf § 253 Abs. 2 BGB zu treffenden Ermessensentscheidung berücksichtigt, dass die Klägerin operiert und 16 Tage stationär behandelt werden musste, fast vier Monate ihren Beruf als Fremdsprachensekretärin nicht ausüben konnte sowie die geplante, aber nicht durchgeführte Reise nach New York. Dies gilt zudem für die Empfindungsstörungen, die Narben im Bauchbereich und die geltend gemachten Schmerzen im Rücken. Zukünftige Beeinträchtigungen dieser Art sind freilich nicht in Ansatz zu bringen, weil die immateriellen Zukunftsschäden vom Feststellungsantrag zu 4) umfasst sind. (…)

6. Die Klägerin ist freilich eine Mitverschuldensquote von 80% gem. § 254 Abs. 1 BGB anzurechnen. Für ihren Sturz vom Fahrrad war ihr Sorgfaltsverstoß gegen § 20 Abs. 2 StVO ebenfalls ursächlich. Sie hätte rechts nur vorbeifahren dürfen, wenn eine Gefährdung der Fahrgäste ausgeschlossen ist.

Entgegen der Ansicht der Klägerin hatte sie beim Passieren der Haltestelle § 20 Abs. 2 StVO zu beachten. Die Vorschrift ist dann ebenso anzuwenden, wenn Fahrgäste beim Verlassen öffentlicher Verkehrsmittel zunächst einen Bürgersteig erreichen und erst anschließend einen Radweg passieren (Heß a. a. O., § 20 StVO Rn. 5; zweifelnd Landgericht Heidelberg, a. a. O.). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut von § 20 Abs. 2 StVO. Ihm sind keine Einschränkungen im Sinne der klägerischen Ansicht zu entnehmen. Aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift lassen sich Einengungen des Anwendungsbereichs ebenfalls nicht begründen. Die Norm soll die Gefahren für ein- und aussteigende Fahrgäste verringern und erhöht deswegen die Sorgfaltspflichten der rechts Vorbeifahrenden. Die Gefahren sind für Fahrgäste, die unmittelbar auf eine Fahrbahn aussteigen müssen, höher. Gefährlich sind derartige Situationen aber auch für die Fahrgäste, wenn sie zunächst einen für Fußgänger reservierten Bereich erreichen können und erst anschließend den Radweg zum Verlassen der Haltestelle betreten müssen. Dies schon deswegen, weil relativ schmale Bereiche für Fußgänger von bis zu drei Metern häufig nicht geeignet sind, eine größere Zahl von aussteigenden Fahrgästen aufzunehmen, diese mithin durch die nachrückenden auf den anschließenden Radweg gedrängt werden. Da die Vorschrift nach der amtlichen Begründung (VkBl. 95, 532) die Fahrgäste von Omnibussen des Linienverkehrs schützen soll, spricht nichts dafür, sie einschränkend auszulegen.

Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass der dargestellten Auslegung des Anwendungsbereichs von § 20 Abs. 2 StVO das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 4. November 2008 – VI ZR 171/07 -, NJW-RR 2009, 239 ff. zitiert nach Juris) nicht entgegensteht. Der Sachverhalt dieser Entscheidung betraf keinen aussteigenden Fahrgast.

Bei der gemäß § 254 Abs. 1 BGB gebotenen Haftungsabwägung ist einerseits zu berücksichtigen, dass § 20 StVO Fahrgäste nicht von ihren Verhaltenspflichten aus § 25 StVO entbindet (Zieres in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 26. Auflage 2011, Kap. 27 Rn. 515). Andererseits ist ein erhebliches anspruchsminderndes Mitverschulden der Klägerin in Ansatz zu bringen. Dieses wiegt deutlich schwerer als das fahrlässige Verschulden des Beklagten, § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO unmittelbar nach Verlassen des Busses missachtet zu haben. Die Klägerin hat nämlich § 20 Abs. 2 StVO – eine der sog. Kardinalpflichten der Straßenverkehrsordnung – verletzt. Sie hätte die Haltestelle nur passieren dürfen, wenn eine Gefährdung von Fahrgästen “ausgeschlossen” ist, was ersichtlich nicht der Fall war. Angemessen erscheint dem Senat eine Haftungsquote von 80% zu Lasten der Klägerin.

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