Die zum Zeitpunkt des Unfalls 11-jährige Klägerin war zu Fuß unterwegs zu einer Bushaltestelle; die Straße hat keine Gehwege und die Klägerin befand sich aus ihrer Sicht am linken Fahrbahnrand. Der Beklagte zu 1) kam ihr in seinem Pkw mit geringer Geschwindigkeit entgegen. Als er sich auf ihrer Höhe befand, sprang plötzlich ein Hund auf dem Privatgrundstück neben der Straße gegen den Zaun und bellte die Klägerin an. Die Klägerin, die den Hund bis dahin nicht bemerkt hatte, erschrak sich und machte einen Schritt nach rechts in die Fahrbahn. Dabei stieß sie gegen den Außenspiegel des Pkw des Beklagten zu 1), verlor das Gleichgewicht, stürzte und verletzte sich, als der Beklagte zu 1) mit dem Pkw auf ihrem Sprunggelenk zum Stehen kam. Der Klägerin wurde kein Mitverschulden angelastet (OLG Karlsruhe, Hinweisbeschluss vom 07.01.2015, Az. 9 U 9/14).

1. Die Haftung der Beklagten beruht auf §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 VVG. Der Schaden der Klägerin wurde bei dem Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten Ziffer 1 verursacht. „Höhere Gewalt“, welche gemäß § 7 Abs. 2 StVG eine Ersatzpflicht der Beklagten ausschließen würde, lag nicht vor. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Unfall unmittelbar mit dem Betrieb des Fahrzeugs des Beklagten Ziffer 1 zusammenhängt, nämlich einer Vorbeifahrt des Pkw an der auf der Fahrbahn befindlichen Klägerin, und dass es sich nicht etwa um ein von „außen“ einwirkendes Naturereignis handelt (vgl. dazu Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 22. Auflage 2012, § 7 StVG, RdNr. 17 ff.). Zum anderen haben die Beklagten nicht den Nachweis erbracht, dass ein schuldhafter Verkehrsverstoß des Beklagten Ziffer 1 ausgeschlossen ist: Unabhängig von der geringen Fahrgeschwindigkeit ist dem Beklagten Ziffer 1 möglicherweise vorzuwerfen, dass er mit zu geringem Seitenabstand an der Fußgängerin vorbeifahren wollte. Nach den Feststellungen des erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachtens betrug der Seitenabstand zwischen dem Fahrzeug und der Klägerin (vor dem Schritt in die Fahrbahn) möglicherweise nicht mehr als 0,5 m. Wenn man davon ausgeht, dass der Seitenabstand bei einer Vorbeifahrt an einem Fußgänger in der Regel mindestens 1 m betragen sollte (vgl. beispielsweise OLG Düsseldorf, NZV 1992, 232; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13.07.1998 – 1 O 189/97 -, RdNr. 45, zitiert nach Juris), wäre es für den Beklagten Ziffer 1 möglicherweise geboten gewesen, sein Fahrzeug anzuhalten, bis die Klägerin – mit geringem Seitenabstand – den Pkw passiert hatte.

2. Der Anspruch der Klägerin wird nicht durch ein Mitverschulden (§§ 254 BGB, 9 StVG) gemindert. Die Beweislast für ein Mitverschulden, welches zur Anspruchsminderung führen könnte, obliegt den Beklagten. Das Landgericht hat zutreffend festgestellt, dass ein schuldhafter Verkehrsverstoß der Klägerin nicht festzustellen ist.

a) Es ist nicht zu beanstanden, dass die Klägerin für ihren Fußweg den linken Rand der Fahrbahn gewählt hat. Zur Benutzung des linken Fahrbahnrandes war sie gemäß § 25 Abs. 1 StVO berechtigt, da es auf der H.-straße in A. weder einen Gehweg noch einen Seitenstreifen gibt. Nach der Regelung in § 25 Abs. 1 StVO gibt es keine rechtlichen Gesichtspunkte, welche die Klägerin hätten zwingen müssen, auf der anderen Seite der Fahrbahn zu gehen. Es spielt insbesondere keine Rolle, dass zur selben Zeit auf der anderen Seite der Fahrbahn zwei Jungen am Rand der Straße liefen.

b) Die Klägerin hat den Unfall mitverursacht dadurch, dass sie – erschreckt durch den bellenden und gegen den Zaun springenden Hund – einen Schritt vom Rand in die Fahrbahn gemacht hat, möglicherweise über eine Distanz von ca. 50 cm. Zwar ergibt sich aus § 1 Abs. 2 StVO (allgemeine Verhaltenspflichten im Straßenverkehr) für einen Fußgänger die Pflicht, beim Herannahen eines Fahrzeugs grundsätzlich keinen Schritt zur Seite in die Richtung des Pkw zu machen. Denn dadurch entsteht die Gefahr eines Unfalls. Im vorliegenden Fall liegen jedoch Umstände vor, die einen Fahrlässigkeitsvorwurf gegenüber der Klägerin ausschließen.

aa) Allerdings stellt der Schritt in die Fahrbahn – entgegen der Auffassung des Landgerichts – eine Handlung im Rechtssinne dar, an welche grundsätzlich zivilrechtliche Folgen geknüpft werden können. Der Umstand, dass das Verhalten der Klägerin eine Schreckreaktion war, die umgangssprachlich auch als „Reflex“ bezeichnet werden kann, ändert daran nichts. Eine unwillkürliche Bewegung, die nicht mehr als Handlung im Rechtssinne bezeichnet werden kann, liegt nur dann vor, wenn das betreffende Verhalten nicht der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung der Person unterliegt (vgl. BGH, NJW 1963, 953; OLG Hamm, NJW 1975, 657; Palandt/Sprau, BGB, 73. Auflage 2014, § 823 BGB, RdNr. 2). Auch bei einem „automatisierten“ Verhalten liegt hingegen eine Handlung grundsätzlich vor, wenn das Verhalten dem regulierenden Zugriff des steuernden Bewusstseins offenbleibt (vgl. dazu Spiegel, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Kraftfahrers für Fehlreaktionen, DAR 1968, 283, 285). Dies gilt insbesondere bei sogenannten Schreckreaktionen, bei denen erst die innere psychische Verarbeitung eines äußeren Reizes zu einer bestimmten Handlung führt. Entscheidend ist dabei – unabhängig von der Frage eines Fahrlässigkeitsvorwurfs (dazu siehe unten) -, dass nicht jeder Mensch in gleicher Weise reagiert. Im vorliegenden Fall erscheint es nicht völlig ausgeschlossen, dass ein anderer Mensch als die Klägerin sich so auf das herannahende Fahrzeug des Beklagten Ziffer 1 hätte konzentrieren können, dass der plötzlich bellende Hund keine Schreckreaktion (Schritt zur Seite in die Fahrbahn) verursacht hätte (vgl. zur Handlungsqualität derartiger „Schreckreaktionen“ Spiegel a. a. O., S. 290).

bb) Das Verhalten der Klägerin war jedoch, wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat, nicht fahrlässig im Sinne von § 276 Abs. 2 BGB. Für den Fahrlässigkeitsvorwurf ist darauf abzustellen, welche Anforderungen an menschliches Verhalten in einer bestimmten Situation gestellt werden können. Für „Schreckreaktionen“ ist anerkannt, dass kein Verschulden vorliegt, wenn jemand in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat, und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um einen Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (vgl. BGH, NJW 1976, 1504; BGH, Urteil vom 04.11.2008 – VI ZR 171/07 -, RdNr. 10, zitiert nach Juris; Palandt/Grüneberg a. a. O., § 276 BGB, RdNr. 17; Spiegel a. a. O., S. 291).

Eine solche Situation, die einen Verschuldensvorwurf ausschließt, war für die Klägerin gegeben. Das plötzliche und für die Klägerin unerwartete Bellen und Gegen-den-Zaun-Springen des Hundes war für die Klägerin eine plötzliche, im ersten Moment nicht vollständig beherrschbare Gefahrensituation. Plötzliches Bellen und Gegen-den-Zaun-Springen in wenigen Zentimetern Entfernung werden von einem Menschen – auch von einem Erwachsenen – üblicherweise als Angriffssignal des Hundes wahrgenommen. Wenn das Ereignis – wie vorliegend – unvorbereitet eintritt, stellen sich bei einem Menschen in der Regel Automatismen ein, die jedenfalls im ersten Moment nicht mehr kontrollierbar sind, bzw. zu einer Fehlreaktion führen können. Eine solche Reaktion war die „Fluchtbewegung“, bei welcher die Klägerin einen Schritt von ca. 50 cm zur Seite – in die Fahrbahn – machte. Es gehört zum Wesen einer solchen Schreckreaktion, dass ein Mensch im ersten Moment nicht ohne Weiteres unterscheiden kann, ob der bellende und springende Hund vom Zaun zurückgehalten wird, oder ob es zu einem echten Angriff mit Bissverletzungen kommt. Die Reaktion der Klägerin beruhte mithin nicht auf einer fehlerhaften Wahrnehmung einer objektiv nicht vorhandenen Gefahrenlage. Vielmehr hatte die Klägerin bei ihrer automatisierten Reaktion – Schritt zur Seite – keine ausreichende Zeit, um noch vor diesem Schritt erkennen und entscheiden zu können, ob der Schritt zum Ausweichen gegenüber dem Hund notwendig und sinnvoll war. Für die Reaktion der Klägerin war dabei keineswegs eine besondere Ängstlichkeit oder Empfindlichkeit maßgeblich. Vielmehr hätten in dieser Situation – angesichts der Plötzlichkeit des Ereignisses – viele Erwachsene ähnlich reagiert. Wer in dieser Situation bei einer nachträglichen Betrachtung objektiv falsch reagiert, weil der Zaun den Hund zurückgehalten hat, handelt nicht schuldhaft (vgl. für entsprechende Fälle BGH, Urteil vom 04.11.2008 – VI ZR 171/07 -, RdNr. 10, zitiert nach Juris). Der vorliegende Fall ist vergleichbar mit den Fällen, in denen ein Kraftfahrer bei einem plötzlichen Hindernis auf der Fahrbahn erschreckt, und mit einer objektiv fehlerhaften Ausweichbewegung reagiert. In derartigen Fällen kommt ein Schuldvorwurf sowohl im Bereich des Strafrechts als auch im Bereich des Zivilrechts grundsätzlich nicht in Betracht (vgl. Spiegel a. a. O., S. 291; OLG Naumburg, NJW-RR 2003, 676).

c) Ein Fahrlässigkeitsvorwurf käme allerdings dann in Betracht, wenn der Eintritt der gefährlichen Situation für die Klägerin vorhersehbar gewesen wäre. Davon wäre etwa dann auszugehen, wenn die Klägerin beim Vorbeilaufen am Grundstück der Familie K. mit dem Verhalten des Hundes hätte rechnen müssen. Dann wäre es möglicherweise zweckmäßig gewesen, am Fahrbahnrand auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu gehen. Für eine solche vorausschauende Vorsichtsmaßnahme bestand aus der Sicht der Klägerin jedoch kein Anlass. Denn es gab für sie aus der Vergangenheit keine Erfahrungen, wonach sie beim Vorbeigehen am Grundstück der Familie K. mit einem „Schreckerlebnis“ durch den Hund hätte rechnen müssen. Die Klägerin hatte keinen Anlass zu besonderer Vorsicht beim Vorbeigehen am Grundstück der Familie K.