Quelle: Usien, Wikimedia Commons

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Zu dem Unfall, der dem Beschluss des OLG Hamm vom 20.08.2015 (Az. 5 RVs 102/15) zugrunde liegt, kam es, als sich der Angeklagte mit seinem Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 65 km/h und von ihm aus gesehen von links ein weiteres Fahrzeug mit 30 km/h einer Ampelkreuzung näherten. Welche Ampel rot zeigte, konnte nicht aufgeklärt werden. Der Angeklagte bemerkte das andere Fahrzeug, ging aber davon aus, dass es halten werde und bremste erst, als sich beide Fahrzeuge auf der Kreuzung befanden. Es kam zum Zusammenstoß, bei dem der Beifahrer in dem anderen Fahrzeug getötet wurde. Wäre der Angeklagte, als das andere Fahrzeug die Haltelinie passierte, nur 50 km/h gefahren, wäre es zu keiner Kollision gekommen. Das reichte dem OLG nicht für eine Verurteilung: Hätte der andere Fahrer vorsätzlich einen qualifizierten Rotlichtverstoß begangen, läge darin ein überwiegendes Mitverschulden, was die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Angeklagten ausschließen würde. Auch die Festsetzung des Fahrverbots durch das Landgerichte erfolgte rechtsfehlerhaft: Unzulässigerweise wurde der Versuch des Angeklagten, sein Verhalten als nicht strafwürdig darzustellen, als Uneinsichtigkeit gewertet. Außerdem wurde die Prüfung unterlassen, ob bei einem Zeitablauf von mehr als zwei Jahren seit der Tat (hier über 3 ¼ Jahre) ein Fahrverbot noch seinen Zweck erfüllen kann.

Zwar ist das Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass nach den getroffenen Feststellungen unzweifelhaft ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten (Geschwindigkeitsüberschreitung um mindestens 15 km/h) und dem Verkehrsunfall einschließlich der eingetretenen Tatfolgen nach §§ 222, 229 StGB besteht. Jedoch reichen die bisher getroffenen Feststellungen nicht aus, um ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten des Unfallgegners – hier des Zeugen X – auszuschließen, das unter dem Gesichtspunkt eines überwiegenden Mitverschuldens der Vorhersehbarkeit des Unfalls entgegen stünde.

1. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die eingetretenen Tatfolgen im Sinne der §§ 222, 229 StGB durch Fahrlässigkeit des Angeklagten verursacht worden sind. Der Zurechnungszusammenhang kann nicht angezweifelt werden.

Nach gefestigter Rechtsprechung ist dieser Zusammenhang in den Fällen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu bejahen, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte, wäre der Fahrzeugführer – hier der Angeklagte – bei Eintritt der kritischen Verkehrssituation nicht mit einer höheren als der zugelassenen Geschwindigkeit gefahren. Das ist einmal dann der Fall, wenn das Fahrzeug bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit noch rechtzeitig hätte abgebremst werden können. Jedoch ist der Erfolg auch dann zurechenbar, wenn der schließlich Geschädigte die spätere Unfallstelle zu dem Zeitpunkt bereits passiert gehabt hätte, zu dem der Beschuldigte bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit am Unfallort eingetroffen wäre; denn auch in einem solchen Fall verwirklichen sich die Gefahren des Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit, vor denen die Geschwindigkeitsregeln gerade schützen sollen (vgl. grundlegend BGHSt 33, 61, 66; BGH, VRS 54, 436, 437; zustimmend König, in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 229 StGB Rdnr. 17; Fischer, StGB, 62. Aufl., Vor § 13 Rdnr. 33).

Im vorliegenden Fall konnte die Strafkammer auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dipl.-Ing. T zweifelsfrei feststellen, dass der Angeklagte 0,7 Sekunden später am Kollisionsort angekommen wäre, sofern er bei Eintritt der kritischen Verkehrssituation – als der Zeuge X die Haltelinie überfuhr – nur mit der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren wäre. Dann wäre es nicht zur Kollision mit den – für den Beifahrer letztlich sogar tödlichen – Verletzungsfolgen gekommen.

Damit steht der Zurechnungszusammenhang als solcher außer Frage.

2. Allerdings reichen die bislang getroffenen Feststellungen nicht aus, um ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten des Unfallgegners – hier des Zeugen X – auszuschließen, das unter dem Gesichtspunkt eines überwiegenden Mitverschuldens der Vorhersehbarkeit des Unfalls und damit auch der Vorhersehbarkeit der eingetretenen Tatfolgen entgegen stünde.

Ein Mitverschulden des Unfallgegners ist dann geeignet, die Vorhersehbarkeit eines Unfalls für den Beschuldigten einer fahrlässigen Tötung oder einer fahrlässigen Körperverletzung auszuschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten besteht (vgl. BGHSt 12, 75, 78; KG, NZV 2015, 45; s. auch Fischer, a.a.O., § 15 Rdnr. 16c).

Hierzu hat die Strafkammer ausgeführt, ein Rotlichtverstoß eines anderen Verkehrsteilnehmers sei kein gänzlich vernunftwidriges Verhalten. Vielmehr kämen solche Verstöße mit einiger Regelmäßigkeit im Straßenverkehr vor, sie beruhten häufig auf Unaufmerksamkeit oder auch auf Rücksichtslosigkeit, seien aber nicht gänzlich vernunftwidrig. Dieser Bewertung, die gleichsam alle denkbaren Rotlichtverstöße pauschal als „nicht gänzlich vernunftwidrig“ einstuft, kann allerdings nicht gefolgt werden. Rotlichtverstöße im Sinne des § 37 StVO können je nach Begehungsart unterschiedlich ausgestaltet sein. Ein wesentliches Kriterium für die Bewertung eines Rotlichtverstoßes – gerade mit Blick auf die Rechtsfolgen – ist die Frage, wie lange die Ampel im Zeitpunkt des Verstoßes schon Rotlicht angezeigt hatte. Der sog. qualifizierte Rotlichtverstoß (länger als 1 Sekunde Rot) ist bereits durch § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKatV i.V.m. Nr. 132.3 als grobe Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG normativ vorbewertet (vgl. auch BVerfG, NJW 1996, 1809, 1810). Darüber hinaus ist hinsichtlich der Bewertung eines Rotlichtverstoßes auch nach der Schuldform zu unterschieden, wobei – hier gelten die allgemeinen Regeln – eine vorsätzliche Begehung deutlich schwerer wiegt als ein fahrlässiger Verstoß. Zumindest eine vorsätzliche Begehung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes ist bei wertender Betrachtung als gänzlich vernunftwidriges Verhalten im vorbeschriebenen Sinne anzusehen.

Für den vorliegenden Fall kommt es demnach entscheidend darauf an, ob sich hinsichtlich des stattgefundenen Rotlichtverstoßes nähere Feststellungen treffen lassen. Die Strafkammer hat aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme keine sicheren Feststellungen dazu treffen können, ob der Angeklagte oder der Unfallgegner – der Zeuge X – bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren sind. Vor diesem Hintergrund ist das Landgericht mit Recht unter Heranziehung des Zweifelsgrundsatzes zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass der Zeuge X bei Rot gefahren ist. Allerdings muss auch ein Zweifel, ob ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten des Unfallgegners anzunehmen ist, nach dem Grundsatz in dubio pro reo zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden. Sofern also nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass der Zeuge X vorsätzlich einen qualifizierten Rotlichtverstoß begangen hat, muss zugunsten des Angeklagten ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten des Unfallgegners unterstellt und die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Angeklagten verneint werden.

Der Senat hält es für möglich, dass hinsichtlich der Qualifizierung des Rotlichtverstoßes noch weitere Feststellungen getroffen werden können. Die Sache bedarf somit in Bezug auf den Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung und damit einhergehend auch bezüglich der Rechtsfolgenentscheidung neuer Verhandlung und Entscheidung.

Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen kann das nach § 44 StGB angeordnete Fahrverbot nicht bestehen bleiben. Zum einen durfte der prozessual zulässige Versuch des Angeklagten, sein Verhalten im Rahmen des letzten Wortes als nicht strafwürdig darzustellen, nicht als Uneinsichtigkeit zu seinen Lasten zur Begründung  des Fahrverbots herangezogen werden (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 44 StGB Rdnr. 6). Zum anderen kann das Fahrverbot aufgrund des langen Zeitablaufs – seit der Tat sind nunmehr über 3 ¼ Jahre vergangen, in denen der Angeklagte nicht erneut wegen Straftaten oder Verkehrsordnungswidrigkeiten auffällig geworden ist – seine spezialpräventive Funktion nicht mehr erfüllen und ist daher nicht mehr geboten. Der Richtwert für ein beanstandungsfreies Fahren liegt bei 2 Jahren (vgl. nur OLG Köln, VRS 109, 338) und ist hier bereits deutlich überschritten, wobei die Verfahrensdauer nicht etwa auf durch den Angeklagten bewirkte Verzögerungen zurückzuführen ist.