Was passiert eigentlich, wenn der Betroffene von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung (§ 73 Abs. 1 OWiG) auf seinen Antrag hin entbunden wurde und in der Hauptverhandlung dann weder der Betroffene noch sein Verteidiger erscheint? Manche Amtsgerichte verwerfen dann den Einspruch unter Berufung auf § 74 Abs. 2 OWiG. Das halten die Oberlandesgerichte in den bisher veröffentlichten Entscheidungen jedoch für rechtswidrig. Warum es rechtswidrig ist, verrät dieser Beschluss des OLG Naumburg. Die fehlerhafte Vorgehensweise kann im Übrigen, wie hier, zur Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der Versagung des rechtlichen Gehörs führen. Dazu muss aber vorgetragen werden, was bei einer ordnungsgemäßen Verhandlung zur Sache vorgebracht worden wäre (OLG Naumburg, Beschluss vom 12.01.2016, Az. 2 Ws 5/16).

1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Halle vom 7. September 2015 wird zugelassen.

2. Auf die Rechtsbeschwerde wird das vorgenannte Urteil aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Dem Betroffenen liegt zur Last, am 15. Juli 2014 kurz nach 16:00 Uhr in H. als Führer eines Lkw den Mindestabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht eingehalten zu haben. Deswegen erließ die Zentrale Bußgeldstelle im Technischen Polizeiamt Sachsen-Anhalt gegen ihn am 28. Oktober 2014 einen Bußgeldbescheid über eine Geldbuße in Höhe von 80,00 Euro. Nachdem der Betroffene dagegen rechtzeitig Einspruch eingelegt hatte, beraumte das Amtsgericht die Hauptverhandlung auf den 7. September 2015 an und entband den Betroffenen antragsgemäß von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen im Termin. Nachdem weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum Termin erschienen waren, verwarf die Amtsrichterin den Einspruch durch Urteil unter Berufung auf § 74 Abs. 2 OWiG, wobei sie im Urteilsvordruck den Halbsatz: „obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war“ durchstrich.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Zulassungsantrag des Betroffenen, mit dem formgerecht die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt wird.

Der Senat lässt die Rechtsbeschwerde zu, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). Die Richterin durfte den Einspruch nach dem eindeutigen Wortlaut des § 74 Abs. 2 OWiG nicht verwerfen, nachdem sie den Betroffenen richtigerweise von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden hatte, was abgesehen vom Wortlaut des Gesetzes auch eine Selbstverständlichkeit ist. Natürlich kann man niemandem mitteilen, dass er nicht zu kommen braucht, und sein Rechtsmittel dann ohne Prüfung verwerfen, weil er nicht erschienen ist.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu ausgeführt:

„Die eingelegte Rechtsbeschwerde ist gemäß § 300 StPO als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 79 Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 1 OWiG zu werten, da gegen den Betroffenen lediglich eine Geldbuße von 80,00 € festgesetzt worden ist, und als solche statthaft. Hiernach kann die Rechtsbeschwerde ausnahmsweise zugelassen werden, wenn u. a. die Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen Versagung des rechtlichen Gehörs geboten ist (Nr. 2). Hier führt die genannte Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs (Artikel 103 Abs. 1 GG) zur Zulassung der Rechtsbeschwerde. Die Antragsbegründung enthält eine den Erfordernissen der §§ 80 Abs. 3 Satz 3, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechende Verfahrensrüge. In der Rechtsmittelbegründung ist ausgeführt, was der Beschwerdeführer im Fall der Gewährung rechtlichten Gehörs vorgetragen hätte, nämlich, dass er die Fahrereigenschaft einräume und die Richtigkeit der Abstandsmessung beanstande.

Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Tatrichterin hat – ohne zur Sache zu verhandeln und zu entscheiden – ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG erlassen, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben waren. Durch diesen Verfahrensfehler hat sie zugleich den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt.

Nach § 74 Abs. 2 OWiG hat das Gericht, wenn ein Betroffener ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war, den Einspruch ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen. Diese Voraussetzungen lagen ersichtlich nicht vor, da der Betroffene mit Verfügung vom 01.09.2015 von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden worden war. Die Tatrichterin hätte daher nach § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen zur Sache verhandeln müssen.
Der Umstand, dass vorliegend auch der Verteidiger des Betroffenen der Hauptverhandlung fern geblieben war, rechtfertigte den Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht. Im Übrigen verpflichtet § 73 Abs. 3 OWiG den vom Erscheinen entbundenen Betroffenen nicht, sich durch einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertreten zu lassen, er kann dies lediglich tun.

Der Erlass eines Verwerfungsurteils unter Missachtung der gesetzlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 OWiG stellt zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, da dem Betroffenen durch den unzulässigen Erlass eines solchen Prozessurteils eine Sachverhandlung, in der das Gericht seine Ausführungen zur Kenntnis nimmt und in seiner Abwesenheit zur Sache verhandelt und entscheidet, sofern – wie hier – die gesetzlichen Voraussetzungen eines Abwesenheitsverfahrens vorliegen, in Gänze verwehrt wird.“

Dem stimmt der Senat zu.

Entgegen dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft sieht der Senat keinen Anlass, die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen. Aufgrund der langjährigen Kenntnis der Praxis der Richterin geht der Senat davon aus, dass der Gehörsverstoß hier auf einmaligem Versehen beruhte und der Betroffene auch bei Zurückverweisung der Sache an dieselbe Abteilung von einem dem Ordnungswidrigkeitengesetz konformen Verfahren ausgehen kann.