André Karwath aka Aka, Wikimedia Commons

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Nachdem das OLG Frankfurt auf das Einsichtsrecht des Betroffenen in die digitale Messdatei eingegangen ist und dieses als selbstverständlich bejaht hat, hat es kürzlich auch zu dem ebenfalls häufig vorkommenden Einsichtsbegehren in die gesamte Messreihe Stellung genommen und sich zurückhaltender geäußert. Hier gelte, dass Persönlichkeitsrechte Dritter betroffen und zu beachten seien, sodass eine Interessenabwägung stattfinden müsse. Daher müsse gegenüber der Verwaltungsbehörde tatsachenfundiert vorgetragen werden, wofür die Messserie benötigt wird. “Unspezifische Bedenken und abstrakten Mutmaßungen” seien unzureichend. Daher muss der Verteidiger in Zukunft jedenfalls mehr ausführen als nur, dass er bzw. der Sachverständige die Messreihe zur Überprüfung der Messung des Betroffenen benötige (OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.08.2016 – 2 Ss-OWi 589/16).

Ergänzend bemerkt der Senat auf das Vorbringen der Verteidigung:

1. Zum Antrag auf Beiziehung der „Lebensakte“

Eine „Lebensakte“ eines Messgerätes kann nur dann beigezogen oder zum Gegenstand der Akteneinsicht gemacht werden, wenn es eine solche gibt. Trotz gegenteiliger Behauptung kann etwas, was nicht existiert, nicht Gegenstand eines Verfahrens sein.

Zum Vortrag bei einem gleichwohl auf Beiziehung oder Akteneinsicht gerichteten Beweisantrags, gehört daher grundsätzlich das Wissen um die Existenz einer solchen „Lebensakte“, wo sie sich befinden soll und vor allem was sich in ihr befinden soll. Nur so kann das Gericht überhaupt prüfen, ob die behauptete „Lebensakte“ Relevanz für das Verfahren haben kann. Dabei gilt auch hier, dass die bloße Behauptung den dazu notwendigen Tatsachenvortrag nicht ersetzt. Vorliegend scheitert der notwendige Tatsachenvortag bereits daran, dass es zumindest in Hessen keine „Lebensakten“ eines Messgerätes gibt.

Auch aus der Entscheidung des OLG Jena (NStZ-RR 2016, 186) ergibt sich nichts anderes. Das OLG hat in dieser Entscheidung die Existenz einer „Lebensakte“ vorausgesetzt. Was eine „Lebensakte“ ist und auf welchen rechtlichen Grundlagen welche Daten, Urkunden oder sonstige Nachweise diese „Lebensakte“ enthalten soll, verhält sich die Entscheidung nicht. Es soll sich um „tatvorwurfrelevante Informationen“ gehandelt haben. Welche das konkret gewesen sein sollen, wird nicht mitgeteilt. Insofern sind auch die Folgen für die Aufklärungspflicht, gegen die das AG verstoßen haben soll, aus der Entscheidung selbst nicht nachvollziehbar. Eine über den vom OLG Jena konkret entschiedenen Einzelfall und den dort möglicherweise vorliegenden Besonderheiten hinaus gehende rechtsweisende Wirkung hat die Entscheidung daher nicht.

Es gibt derzeit auch keine gesetzliche Vorschrift, die die Erstellung einer „Lebensakte“ vorsieht.

Die einzige Regelung in diesem Zusammenhang ist § 31 MessEG. Diese Vorschrift sieht die Aufbewahrungspflicht des Verwenders für Reparaturen und Wartungen bei nicht geeichten Geräten vor. Die Vorschrift dient der Marktüberwachung der Eichämter bei „nur“ konformitätsbewerteten Messgeräten. Konsequenterweise sind derartige Nachweise auch nur bis zur Eichung vorzuhalten. Nichtgeeichte Messgeräte sind vorliegend in Hessen derzeit nicht im Einsatz.

Sollte sich der Antrag auf Einsicht in die „Lebensakte“ daher auf „Beiziehung der Reparatur und Wartungsbescheinigungen“ nach § 31 MessG richten, ist in den Blick zu nehmen, dass bei geeichten Messgeräten derartige Bescheinigungen grundsätzlich nicht vorgehalten werden müssen.

Sie sind im Übrigen auch keine geeigneten Beweismittel, um tatsachenbegründete Zweifel an der Messrichtigkeit und Messbeständigkeit eines geeichten Messgerätes wecken zu können. Eine Reparatur kann ohne Brechung der Eichsiegel nicht erfolgen. Selbst wenn es zu Reparaturen gekommen wäre, müssen die Geräte vor erneuter Inbetriebnahme neu geeicht werden. Die Eichämter bestätigen durch die erneute Eichung und (Neu)-Siegelung die Messrichtigkeit und Messbeständigkeit des Geräts. Auf die Stellungnahme der PTB vom 31.5.2016 zu § 31 MessEG (einsehbar auf der Homepage der PTB www.ptb.de/geschwindigkeit_stellungnahmen), die ebenfalls nach § 256 I Nr. 1. a) StPO – als Gutachten einer Behörde – verlesen werden kann, wird ausdrücklich verwiesen.

Ist das Tatgericht von der Unversehrtheit der Eichsiegel überzeugt, wozu i.?d.?R. die Erklärung des Messbeamten, der die Eichsiegel überprüft und der seine Erkenntnisse in einem Messprotokoll niedergelegt hat, ausreicht, kann das Tatgericht ohne konkrete tatsachenfundierte Einwendungen grundsätzlich von einer ordnungsgemäßen Messung ausgehen. Das Messprotokoll kann als Erklärung nach § 256 I 1 Nr. 1. a) bzw. Nr. 5 StPO als Zeugnis bzw. Erklärung über eine amtlich festgestellte Tatsache einer Ermittlungshandlung verlesen werden. Der Ladung des Messbeamten bedarf es insoweit in aller Regel nicht.

2. Zur Beiziehung der „kompletten Messreihe“

Auch dem Antrag auf Einsicht in die „komplette Messreihe“ muss das Gericht grundsätzlich nicht nachkommen.

Dabei gilt zunächst, dass die „Messreihe“ nicht Aktenbestandteil ist. Beweismittel für den Verkehrsverstoß ist ausschließlich das Messbild des Betroffenen mit den ihn betreffenden Messdaten in der ausgewerteten verbildlichten Form, wie es sich in der Gerichtsakte befindet (OLG Frankfurt a.?M., Beschl. v. 3.3.2016 – 2 Ss-OWi 1059/15= NStZ-RR 2016, 185; v. 28.4.2016 – 2 Ss-OWi 190/16 = NStZ-RR 2016, 322).

Da das in der Akte befindliche „Messbild“ als Beweismittel für den Verkehrsverstoß auf der digitalisierten „Falldatei“ beruht, hat der Betroffene selbstverständlich ein Einsichtsrecht in die „nur“ ihn betreffende digitalisierte Falldatei, auch wenn sie nicht gerichtlicher Aktenbestandteil ist. Das ist aber keine Frage der Akteneinsicht bei Gericht, sondern es handelt sich um ein im Vorfeld der Hauptverhandlung an die Verwaltungsbehörde zu richtendes Gesuch.

Die Verwaltungsbehörde ist gem. § 47 I OWiG i.?V. mit § 26 I StVG Herrin der „Falldatei“. Die Verwaltungsbehörde hat diesem Gesuch nachzukommen, da die „Falldatei“ die Messdaten enthält, die das Messgerät zum Tatzeitpunkt erzeugt hat und auf denen der Tatnachweis beruhen soll. Dem Betroffenen muss von der Verwaltungsbehörde grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt werden, die „Falldatei“ zumindest auf Übereinstimmung mit dem in der Bußgeldakte befindlichen „Messbild“ zu überprüfen. Darüber hinaus kann nur über die „Falldatei“ der Messvorgang sachverständig (z.?B. durch die PTB) rekonstruiert werden. Sollte die Verteidigung „unspezifische“ Bedenken gegen die Richtigkeit der Messung haben, kann sie diese anhand der Falldatei überprüfen. Erst wenn sich daraus konkrete tatsachenbegründete Anhaltspunkte für Messfehler ergeben, muss sich das Gericht damit beschäftigen. Wird der Antrag auf Beiziehung der „Falldatei“ erst in der Hauptverhandlung gestellt, fehlt es an diesem notwendigen tatsachenfundierten Vortrag und das Gericht kann weiterhin von der Messrichtigkeit und Messbeständigkeit des Geräts ausgehen, da die sachverständige Begutachtung durch PTB und die Eichämter nicht erschüttert sind.

Dieses für die „eigene“ Falldatei geltende Einsichtsrecht bei der Verwaltungsbehörde, gilt für die gesamte „Messreihe“ nicht. Sie ist weder unmittelbares noch mittelbares Beweismittel im Verfahren. Hier hat der Verteidiger – gegenüber der Verwaltungsbehörde – tatsachenfundiert vorzutragen, warum er die gesamte Messreihe benötigt und dabei in die grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechte Dritter eingreifen will. Auch hier gilt, dass die bloße Behauptung den notwendigen Tatsachenvortrag nicht ersetzt. Der Hinweis auf Behauptungen sog. „Privatgutachter“ – wie vorliegend – sind unzureichend, wenn sie keine Tatsachen enthalten und sich in unspezifische Bedenken und abstrakten Mutmaßungen erschöpfen. Entgegen der auch vorliegend erhobenen Behauptungen, sind diese sog. „Privatgutachter“ keine Sachverständigen i.?S. der StPO. Ihre Erklärungen sind, da sie weder Beteiligte des Prozesses sind, noch in aller Regel als Zeugen in Betracht kommen, grundsätzlich ohne Relevanz, wenn sie sich der Betroffene nicht zu eigen macht.

Die vorliegend unter Bezugnahme auf ein sog. „sachverständiges Zeugnis“ eines „Sachverständigen“ erhobene Behauptung „die Messreihe zu benötigen, um die Nachprüfbarkeit des vorgeworfenen Geschwindigkeitswertes prüfen zu können“, ist eine zirkuläre Behauptung. Es wird lediglich eine unsubstantiierte Behauptung mit einer anderen ebenso unsubstantiierten Behauptung verknüpft, ohne dass dadurch ein prüfungsfähiger Tatsachenvortrag entsteht. So bleibt nach wie vor offen, warum der „eigene“ Verstoß dadurch überprüft werden kann, dass man sich Verstöße von anderen Verkehrsteilnehmern ansieht. Selbst wenn das Messgerät alle anderen Messungen an diesem Tag storniert und nur die des Betroffenen aufgezeichnet hätte, folgt daraus nur, dass eine Messung, nämlich die des Betroffenen, messtechnisch wirksam zustande gekommen ist. Ob diese Messung richtig ist, kann nach wir vor nur anhand der sie betreffenden Messdaten überprüft werden.

Erst wenn durch tatsachenfundierten Vortrag und zwar zur Überzeugung des Gericht dargelegt wird, warum aus der Prüfung der Messreihe entscheidungserhebliche Schlüsse auf die Messrichtigkeit des den Betroffenen zugeordneten Messwertes gezogen werden müssen, muss sich das Amtsgericht damit auseinandersetzen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass wenn sachverständige Stellungnahmen der PTB (www.ptb.de/geschwindigkeit_stellungnahmen) vorhanden sind, diese bei der Darlegung zu berücksichtigen sind.

Desweiteren muss eine Abwägung getroffenen werden, ob der Einsicht in die Messreihe nicht auch noch andere rechtliche Gründen, die den Schutz der davon betroffenen Dritten regeln, entgegenstehen.